Wie inklusiv ist Yoga?
Yoga wird oft als eine Praxis beschrieben, die „für alle“ ist. Ein Raum, in dem Menschen unabhängig von Alter, Körperform, Erfahrung oder Hintergrund zusammenkommen können, um sich zu bewegen, zu atmen und zu reflektieren. Doch wie inklusiv ist Yoga tatsächlich – nicht im Ideal, sondern im gelebten Unterricht?
Viele der Cues, die wir im Yogaunterricht seit Jahrzehnten hören, stammen aus Kontexten, die weder neurodiverse Menschen berücksichtigen, noch unterschiedliche Körperfunktionen, Traumahintergründe, Zyklusphasen, Anatomien oder Tagesformen. Was gut gemeint ist, kann in der Praxis ausschließend wirken.
In diesem Artikel beleuchten wir, warum bestimmte Anleitungen problematisch sind, wie Inklusivität im Yoga wirklich aussehen kann – und welche konkreten Alternativen Yogalehrende sofort umsetzen können.
Warum Inklusivität im Yoga weit über „jeder ist willkommen“ hinausgeht
Inklusivität bedeutet nicht, dass alle kommen dürfen. Inklusivität bedeutet, dass alle teilnehmen können – ohne Scham, ohne Leistungsdruck, ohne Überforderung. Dafür braucht es drei Grundpfeiler:
Vielfalt menschlicher Körper verstehen
– Unterschiedliche Proportionen (Armlänge, Beinlänge, Torso, Hüftstruktur)
– Unterschiedliche Gelenkigkeit und Mobilität
– Unterschiedliche Kraft- und Stabilitätslevel
– Schmerzen, Verletzungen, Hypo- oder HypermobilitätNeurodivergenz und Trauma-Sensibilität mitdenken
– Autistische Menschen, ADHS, Sensory Overload
– Menschen, denen das Schließen der Augen Angst macht
– Personen, die Stille nicht als Entspannung empfindenWertungsfreie Sprache und echte Optionen
– Nicht „voll“, „halbe“ oder „richtige“ Asanas
– Kein implizites Ranking von Körpern oder Fähigkeiten
– Keine stillen Erwartungen, die zu Selbstzweifeln führen
Erst wenn diese Ebenen berücksichtigt werden, wird Yoga wirklich zu einer Praxis der Verbindung, statt einer unbewussten Reproduktion von Leistungsnormen.
Problematischer Cue Nr. 1: „Schließ deine Augen.“
Für manche Menschen ist das Schließen der Augen angenehm. Für andere ist es ein direkter Stressor.
Warum dieser Cue nicht inklusiv ist:
Menschen mit Trauma-Hintergrund fühlen sich unwohl oder unsicher.
Neurodivergente Personen orientieren sich stark über den visuellen Sinn.
Neue Teilnehmer:innen wollen erstmal den Raum wahrnehmen.
Geräusche, fremde Menschen und Unbekanntes können Angst auslösen.
Augen schließen ist kein Muss, um nach innen zu hören.
Bessere inklusive Alternativen:
„Wenn es sich gut anfühlt, kannst du deine Augen schließen.“
„Oder löse den Blick und schaue weich Richtung Boden.“
„Oder such dir einen Fixpunkt, wenn dir das mehr Sicherheit gibt.“
„Nimm dir gern einen Moment, um dich im Raum umzuschauen, bevor du ankommst.“
Das Entscheidende ist, keine Option als „besser“ oder „richtiger“ darzustellen.
Problematischer Cue Nr. 2: „Finde Stille.“
Dieses Cue suggeriert oft: „Stille = gute Meditation.“ Doch Stille ist für viele Menschen kein natürlicher oder sicherer Zustand – schon gar nicht, wenn sie in einer ungewohnten Umgebung sind.
Warum das problematisch ist:
Stille kann triggernd oder überwältigend wirken.
Manche Körper brauchen Bewegung, um Ruhe zu finden.
Innere Unruhe ist kein Zeichen von „Versagen“, sondern ein normaler Zustand.
Die Vorstellung von „Stille im Lotussitz“ entspricht einer perfekten Instagram-Ästhetik, nicht der Realität.
Inklusive Alternativen:
„Finde eine Form von Ruhe, die heute für dich erreichbar ist.“
„Vielleicht still, vielleicht bewegt – beides ist okay.“
„Du kannst im Sitzen, im Liegen, angelehnt oder auf einer Decke meditieren.“
Meditation wird erst inklusiv, wenn die Form flexibel wird.
Problematischer Cue Nr. 3: Posen Hierarchien („volle Asana“, „wenn du so weit bist“)
Diese Sprache ist weit verbreitet – aber sie ist zutiefst ableistisch. Sie suggeriert, dass:
eine Form „richtig“ ist
andere Formen nur Übergangsstufen
„der flexible Körper“ der bessere ist
Leistung etwas über deinen Wert im Yoga sagt
Was das unbewusst auslöst:
Leistungsdruck: Ich muss besser werden.
Scham: Warum kann ich das nicht?
Körpervergleich: Alle anderen sind weiter.
Frustration: Was stimmt nicht mit mir?
Doch: Nicht jeder Körper kann jede Asana – und das ist kein Defizit. Anatomische Grenzen (z. B. Knochenstruktur, Gelenkform) bestimmen, ob eine Haltung möglich ist, nicht Disziplin oder Wille.
Inklusive Alternativen:
„Hier sind verschiedene Optionen – spür, was davon heute zu dir passt.“
„Jede Variante hat den gleichen Wert.“
„Wähle die Form, in der du am besten arbeiten kannst.“
„Es geht um Wirkung, nicht um Aussehen.“
So wird Yoga wieder funktionell, nicht leistungsorientiert.
Problematischer Cue Nr. 4: „Wenn du eine Pause brauchst, geh in die Kindhaltung.“
Kindhaltung wird traditionell als universelle Pause dargestellt – und das ist ein Mythos.
Für viele Menschen ist Kindhaltung:
unangenehm oder schmerzhaft
nicht erreichbar (z. B. durch Proportionen, Mobilität, Hüftstruktur)
nicht entspannend (Kopf tief, Hüften eng, Druck auf Knie)
bei Hyperlordose oder Rückenschmerzen kontraproduktiv
bei Schwangerschaft schlicht nicht möglich
Was ist inklusiver?
„Wenn du eine Pause brauchst, finde eine Position, in der du gut atmen kannst.“
Vorschläge statt fixe Vorgabe:
– Sitzen
– Liegen
– Vierfußstand
– Unterarme ablegen
– sanfte Bewegung statt Erstarren
– Hände auf den Bauch legen für mehr Sicherheit
Eine Pause ist keine Schwäche, sondern ein Skill im Yogaunterricht.
Inklusivität beginnt bei der Sprache, aber endet nicht dort
Inklusiver Yogaunterricht berücksichtigt:
1. Körperproportionen
Nicht jeder kann die Hände am Boden flach ablegen – egal wie viel Stretching.
2. Neurodivergenz
Manche Menschen brauchen Bewegung, Geräusche oder Fokuspunkte.
3. Trauma Sensibilität
Schließen der Augen, enge Räume, Nähe oder bestimmte Berührungen können Stress auslösen.
4. Zyklus und Hormonlage
Kraftlevel, Gelenkigkeit, Energie – alles schwankt.
5. Emotionale Sicherheit
Wertende Sprache zerstört Vertrauen.
6. Mehrere Varianten pro Pose
Nicht „leicht – mittel – schwer“, sondern gleichwertige Optionen für unterschiedliche Bedürfnisse. Wer als Yogalehrperson Inklusivität ernst nimmt, schafft einen Raum, in dem Menschen:
✓ ihren Körper nicht übergehen
✓ Scham ablegen
✓ ihre Grenzen respektieren
✓ sich sicher fühlen
✓ mit Freude üben
✓ langfristig bleiben
Wie du als Yogalehrer:in direkt inklusiver unterrichten kannst
Hier sind konkrete, sofort umsetzbare Leitlinien:
1. Verwende nicht-wertende Sprache.
Statt: „Volle Asana“ → „Option A / Option B / Option C“. Statt: „Wenn du es noch nicht kannst“ → „Wenn sich das heute nicht passend anfühlt“
2. Ermögliche Wahlfreiheit.
Mach klar: „Alle Formen sind gleichwertig.“
3. Normalize Pausen.
Sag explizit am Anfang: „Pausen sind willkommen. Du bestimmst deine Intensität.“
4. Biete echte Alternativen statt Standard-Cues.
Auch bei Meditation, Atmung, Ausrichtung, Entspannung.
5. Verstehe Anatomie und Proportionen.
Nicht jeder Körper kann durch Knochenbegrenzungen dieselbe Haltung ausführen – unabhängig von Erfahrung.
6. Schaffe psychologische Sicherheit.
Klare Erwartungen, ruhige Sprache, Wahlmöglichkeiten, Orientierung.
7. Biete verschiedene Meditationsformen an.
Nicht jede Person kann in Stille sitzen. Geführte Meditation, bewegte Meditation, taktile Reize, Visualisierung – all das kann helfen.
Warum dieser Wandel wichtig ist
Inklusives Yoga ist kein Trend. Es ist eine Rückkehr zum ursprünglichen Kern der Praxis:
Yoga bedeutet Verbindung – nicht Perfektion. Annäherung – nicht Anpassung an eine Form. Achtsamkeit – nicht Ehrgeiz. Selbstwahrnehmung – nicht Selbstoptimierung.
Wenn wir Yoga wirklich für alle wollen, dann müssen wir:
alte Sprachmuster hinterfragen
körperliche Vielfalt respektieren
psychische und neurologische Unterschiede ernst nehmen
Menschen befähigen statt bewerten
So entsteht ein Unterricht, der wirklich transformiert, auf und neben der Matte.
Fazit: Inklusives Yoga ist ehrlicher, moderner und menschlicher
Yoga hat das Potenzial, ein zutiefst heilender, verbindender und empowernder Raum zu sein, wenn wir die nötige Reflexion mitbringen. Es geht nicht darum, alles perfekt zu machen. Es geht darum, hingucken zu wollen, statt automatisch weiterzugeben, was man einmal gelernt hat.
Jeder kleine Schritt:
ein alternatives Cue
eine wertfreie Formulierung
eine Option mehr
ein bewusstes „Mach das, was heute passt“
macht Yoga für viele Menschen überhaupt erst zugänglich.
Inklusivität ist kein Extra. Sie ist der Kern der Praxis.
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