Welche Yoga Cues sind fragwürdig?
Warum bewusste Sprache im Yoga mehr ist als ein netter Bonus
Sprache prägt unsere Wahrnehmung – im Alltag, in Beziehungen und auch in der Yogapraxis. Jede Anweisung, jedes Cueing erzeugt Bilder, beeinflusst Bewegung und kann das Selbstbild stärken oder verunsichern. Genau deshalb sollten wir uns als Lehrer:innen immer wieder fragen: Was sagen wir da eigentlich – und warum?
In vielen Yogaklassen hören wir seit Jahren dieselben Phrasen. Manche davon sind hilfreich, andere wirken auf den ersten Blick harmlos, sind aber problematisch – sei es anatomisch, emotional oder kulturell.
In diesem Artikel beleuchten wir vier häufige Cues und erklären, warum sie nicht mehr zeitgemäß sind – und was wir stattdessen sagen können.
„Zieh den Bauchnabel nach innen“ – der flache Bauch als Aktivierungsmarker?
Dieser Cue soll die Körpermitte aktivieren und Stabilität erzeugen. Doch was bei manchen funktioniert, kann bei anderen genau das Gegenteil bewirken: Atemrestriktion, Beckenbodendruck, Verspannungen. Und – nicht zu vergessen – ein subtiler Leistungsdruck, der sich mit gesellschaftlichen Schönheitsidealen vermischt: Flacher Bauch = gut. Weicher Bauch = falsch.
Vor allem für Menschen mit einem sensiblen Körperbild (z. B. nach Essstörungen, Schwangerschaft, chronischen Schmerzen oder Trauma) kann dieser Cue mehr Schaden als Nutzen anrichten. Stattdessen lohnt sich eine funktionelle, bildhafte Sprache, die zur Selbstwahrnehmung einlädt:
„Spür, wie sich deine Körpermitte mit dem Atem verändert.“
„Finde aus deiner Mitte heraus Länge und Leichtigkeit.“
„Schultern weg von den Ohren“ – wirklich?
Das Bild klingt vertraut – und ist doch biomechanisch oft unsinnig. Beim Anheben der Arme ist es physiologisch notwendig, dass sich das Schulterblatt in Rotation und Elevation mitbewegt. Die Schulter „darf“ sich dem Ohr annähern, wenn sie gleichzeitig in ihrer Funktion bleibt.
Wenn wir also ständig „weg von den Ohren“ sagen, verhindern wir unter Umständen eine gesunde, mitatmende Bewegung. Wir erzeugen Spannung, wo eigentlich Koordination gefragt ist.
Stattdessen könnten wir sagen:
„Lass deine Schulterblätter dem Arm folgen.“
„Finde Weite in den Schlüsselbeinen, statt Enge im Nacken.“
„Brustbein zur Decke“ – oder: Warum Haltungsideale ausgedient haben
Viele klassische Cues basieren auf Vorstellungen von „guter Haltung“ – aufgerichtet, offen, aufrecht. Doch was passiert, wenn wir ständig „Brustbein zur Decke“ oder „Herzraum öffnen“ sagen?
Oft überstrecken wir die Brustwirbelsäule, verengen den unteren Rücken und verlieren Kontakt zur Mitte. Stattdessen wird eine Form geübt, die visuell vielleicht gut aussieht – aber funktionell oft instabil ist.
Gleichzeitig transportiert dieser Cue ein Ideal: Offen = gut. Geschlossen = schlecht. Dabei ist Schutz ein genauso wichtiger Teil von Bewegung wie Öffnung.
Reflektierter wäre:
„Finde Länge entlang deiner Wirbelsäule – nach oben UND nach unten.“
„Spür, wie dein Brustkorb sich in alle Richtungen weitet – nicht nur nach vorne.“
„Jetzt lächeln wir mal alle“ – freundlich oder übergriffig?
Dieser Satz fällt vor allem in fordernden Sequenzen oder als Übergang am Ende. Und ja, er ist oft nett gemeint. Aber er ignoriert, dass nicht jede:r auf der Matte „nett“ oder „leicht“ fühlen kann oder will.
Ein Lächeln auf Kommando kann übergriffig wirken. Vor allem für Menschen, die gelernt haben, Emotionen zu unterdrücken oder soziale Erwartungen zu erfüllen. Es verstärkt das Bild von Yoga als „immer positiv“ – statt Yoga als Raum für das, was ist.
Vielleicht reicht es, wenn wir einfach sagen:
„Lass deine Erfahrung sein, wie sie gerade ist.“
„Schau, was dein Gesicht gerade braucht – Entspannung, Spannung oder einfach Ruhe.“
Warum das alles nicht kleinlich ist
Manche mögen sagen: „Ist doch egal. Hauptsache, die Leute bewegen sich.“ Aber genau das ist es nicht. Yoga ist mehr als Bewegung. Es ist Raum. Raum für Selbstbegegnung, für Empfindung, für Entwicklung. Und dieser Raum entsteht auch durch Sprache.
Sprache beeinflusst, wie sich Menschen in ihrem Körper erleben. Ob sie sich sicher fühlen oder angepasst. Ob sie ermutigt werden, sich zu spüren – oder nur funktionieren.
Und: Sprache reproduziert Strukturen. Wenn wir unreflektiert sprechen, geben wir womöglich patriarchale, leistungsorientierte oder ableistische Narrative weiter – obwohl wir eigentlich etwas anderes vermitteln wollen.
Unsere Verantwortung als Lehrer:innen
Als Lehrer:innen haben wir die Möglichkeit (und Pflicht), unsere Sprache regelmäßig zu überprüfen. Sie ist kein nebensächliches Werkzeug, sondern zentraler Bestandteil unserer Didaktik.
Das heißt nicht, dass wir „perfekt“ sprechen müssen – aber bewusst. Dass wir hinhören. Reflektieren. Und bereit sind, zu lernen.
Deshalb sehen wir unsere Arbeit im MOTIVITY Studio nicht nur als Praxis auf der Matte, sondern auch als kontinuierliche Reflexion. Darüber, was wir sagen. Und wie wir Menschen begleiten wollen.
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Wir arbeiten mit modernen bewegungswissenschaftlichen Erkenntnissen, loten funktionelle Bewegungsoptionen aus und entwickeln gemeinsam eine Sprache, die Menschen stärkt – statt sie in Muster zu pressen.
Alle Infos findest du hier:
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